Lebensqualität

Im folgenden ein Auszug aus einem Artikel bei Heise, in dem es um das Problem „Mind doping“ geht. Hierbei handelt es sich um Medikamente, die die Leistungsfähigkeit des Geistes und Körpers steigern (mehr Konzentration, weniger Schlaf notwendig, Antidepresiva etc.).

(Quelle: Heise online [Link], von Stephan Schleim, 28.07.2008)

Soziale Lösungen für soziale Probleme

Eine wichtige Frage, die sich jeder stellen sollte, der mit dem Gedanken ans Mind Doping spielt, ist diejenige: Warum will ich das eigentlich? Man spricht immer öfter von der Leistungsgesellschaft, was sich ähnlich wie die Wissens- oder Informationsgesellschaft nach etwas Gutem anhört. Allerdings sollte klar sein, dass die Leistungsfähigkeit eines Menschen nicht ins Unermessliche gesteigert werden kann. Daraus folgt, dass an einem Punkt, früher oder später, eine Grenze gezogen werden muss. Zwar könnte man die Grenze in der Situation ziehen, in der man pharmakologisch gestützt 16 Stunden am Tag arbeitet, die Nacht pharmakologisch auf vier Stunden verkürzt und dabei noch glaubt, auf diese Weise vier Stunden Privatleben zu gewinnen.

Ernüchternd ist hingegen, dass sich auch an dieser Stelle dasselbe Problem stellen würde: Wenn Leistung etwas Gutes ist, und ein anderer jetzt gerade arbeitet anstatt sich auszuruhen, sollte ich meine Leistung dann nicht weiter steigern? Wenn Psychopharmaka eines Tages tatsächlich problemlos unsere geistige Leistungsfähigkeit steigern könnten, würden sie also mittelfristig nicht das Problem des Leistungsdrucks lösen, sondern es nur auf eine andere Ebene verschieben. Die einzige Lösung liegt vielmehr darin, sich ab einer bestimmten Grenze dem überzogenen Druck durch eine Entscheidung zu entziehen. In welchem normalen Rahmen sich dies bewegen kann, liegt nicht zuletzt an dem Verhalten der Teilnehmer in dieser Leistungsgesellschaft, die dadurch die Norm festlegen.

Der britische Nobelpreisträger, Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell (1872-1970) hat in seiner Schrift „Lob des Müßiggangs“ dafür plädiert, diese Grenze lieber etwas niedriger anzusetzen als höher. Viele mögen es für absurd halten, eher an einen vier- als an einen 16-Stunden-Tag zu denken. Es geht bei dieser Entscheidung aber um nicht weniger als darum, was das gute Leben ist. Für Russell gehörte auch dazu, sich Zeit für andere Interessen, eigene Ideen, die Politik, Kultur oder Kunst nehmen zu können. Im Beruf geht es aber oft nicht mehr um andere Interessen, sondern um Interessen anderer, in einer langen Kette bis zu denjenigen anonymer und gesichtsloser Anteilseigner.

Bertrand Russell sah im technologischen Fortschritt die Möglichkeit, vielen Menschen eine müßiggängerische Welt zu ermöglichen, anstatt durch Rationalisierung immer wenigeren immer mehr Arbeit aufzubrummen. Die Arbeit der Maschinen könnte dafür sorgen, den Lebensstandard vieler auf einem hohen Niveau zu halten. „Ich denke, dass bei weitem zu viel Arbeit auf der Welt erledigt wird und dass immenses Leid durch den Glauben erzeugt wird, Arbeit sei tugendhaft“, schrieb er schon 1932. Das klingt fast nach Isaac Asimovs Roboterwelten, in denen sich die Menschen von Maschinen bedienen lassen anstatt hart zu arbeiten.

Diese Überlegungen zur Leistungsgesellschaft und zum guten Leben machen auch deutlich, welches Risiko pharmakologische Lösungen für soziale Probleme bergen. Hätten unsere Vorfahren zu Pillen gegriffen anstatt für Menschenrechte und Demokratie zu kämpfen, wir hätten wahrscheinlich heute noch die absolutistische Monarchie nach dem Prinzip Louis XIV. (1638-1715): L´État, c´est moi – der Staat bin ich; oder gar ein sklavenhalterisches Rom.

Bereits aus der heutigen Perspektive schaut man in die 1950er Jahre der Vereinigten Staaten zurück und spricht nach dem gleichnamigen Song der Rolling Stones von den damaligen Psychopharmaka wie Miltown, Librium und Valium als Mother´s little helpers – Mutters kleine Helfer. Hausfrauen seien damals massenweise durch Pharmakologie zufrieden gestellt worden in einer Situation, die tatsächlich unbefriedigend für sie war, stellt der US-Psychiater Peter Kramer fest, der als einer der ersten Gesunden Antidepressiva verschrieben hat. Denkt man an die vermehrte Arbeitslosigkeit und damit einhergehende psychische Erkrankungen wie Depressionen, könnten wir uns heute in einer ganz ähnlichen Lage befinden, indem wir die Lösung allein in selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern sehen, den Antidepressiva unserer Zeit.

Ein ganz wesentlicher Punkt ist aber auch das Menschenbild, das mit der pharmakologischen Verfügbarkeit über Hirnzustände einhergeht. Wer sich selbst zu einer Maschine degradiert, an der man bloß am richtigen Rädchen zu drehen braucht, um sie funktionstüchtig zu halten, der verzichtet damit auch auf Werte und Rechte, die in der Geschichte des Abendlandes mühsam errungen wurden. Eine Maschine ist schließlich immer ein Mittel zum Zweck eines anderen – Enhancement für den Chef, um den überzogenen Wünschen der anderen zu genügen, die Ansprüche der Leistungsgesellschaft zu erfüllen.

Der Glaube an Selbstverwirklichung entpuppt sich damit als Reinfall auf Fremdbestimmung. Die extreme Leistungsgesellschaft ist damit gar keine Gesellschaft mehr, in der autonome Personen Entscheidungen treffen, sondern eine allein marktwirtschaftlich produktive Maschinenwelt. Der Mensch hat dann die Macht nicht an die Maschinen übergeben, wie es manche Dystopien ausformulieren (zum Beispiel in Matrix oder Terminator), sondern sich selbst zum Maschinenartefakt gemacht. Das führt vor Augen, dass soziale Probleme auch eine soziale Lösung erfordern, keine pharmakologische.

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